Mehr Pop in der Kirche

Zehn Jahre nach den „3 Forderungen zur entschlosseneren Förderung von Popularmusik-Qualität in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg“.

Im Juni 2009 veröffentlichte die Arbeitsstelle Musisch-kulturelle Bildung im Evang. Jugendwerk in Württemberg (MukuBi – heute musikplus) ein Positionspapier, das in Fachkreisen durchaus auf unterschiedliche Resonanz gestoßen ist. Die einen zeigten großes Interesse und waren froh, dass diese Eckpunkte formuliert wurden. Die anderen äußerten ihr Unverständnis und reagierten verärgert, weil diese „3 Forderungen“ die alten Gräben doch eher wieder aufreißen würden.

Was hat sich nun nach 10 Jahren getan? Was hat sich seitdem bewegt? –
Ein Kommentar aus Sicht von musikplus, dem Arbeitsbereich für Popularmusik im EJW.

Nach einem Jahrzehnt sind wir dankbar für den Weg, den wir gemeinsam in den unterschiedlichen Bereichen der Kirchenmusik zurückgelegt haben.

Es ist ein gutes Miteinander und ein konstruktives Gesprächsklima gewachsen. An vielen Stellen gibt es eine sehr wertschätzende Zusammenarbeit zwischen „klassischen“ Kirchenmusikern und Popularmusikern. Die popmusikalische Arbeit hat in der Kirchenmusik an Relevanz gewonnen. Wir schätzen sehr, wie viele Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker sich inzwischen ausführlich mit dem Thema beschäftigen. Viele haben sogar den berufsbegleitenden Weiterbildungskurs Popularmusik („Pop – Musik – Kirche“) an der Bundesakademie in Trossingen absolviert, der dabei hilft, mit Respekt vor der Komplexität des Themas ins Gespräch zu gehen.

Popularmusik wird daher heute in der Kirchenmusik stärker wahrgenommen und selbstverständlicher mitgedacht – auch beispielsweise bei der Planung von Kongressen und Veranstaltungen.

Dass sich die Landessynode im Sommer 2011 in Heidenheim einen ganzen Tag lang mit dem Thema Musik beschäftigt hat, geht auf den Impuls der „3 Forderungen” zurück. Mehrere Projektstellen, die bei dieser „Musiksynode” beschlossen wurden und die inzwischen vor allem auch den Pop-Bereich stärken, wären ohne diese Initiative wohl nicht entstanden. Auch in der kirchenmusikalischen Ausbildung hat sich viel entwickelt (vgl. dazu „Forderung 3“).

Diese vielen positiven Entwicklungen machen Mut. Trotzdem sind die in den Forderungen formulierten Dimensionen kirchenmusikalischen Handelns ein bleibendes Desiderat.

Die Popularmusik ist – entgegen mancher Prognosen scharfer Kritiker – keine „vorübergehende Erscheinung“, sondern wird unserer Wahrnehmung nach zu einem immer wichtigeren Entwicklungsthema der Kirche. Die jüngeren Generationen in den Gemeinden bringen Hörgewohnheiten und Erwartungen mit, die den Bedarf an qualifizierter Popularmusik und kompetenten Musikteamleiterinnen und Musikteamleitern in den nächsten Jahren sicherlich noch steigen lassen werden.

Mit einer gewissen Sorge nehmen wir darum wahr, dass die Pop-Ausbildung immer noch einen eher verhaltenen Wirkungsgrad zeitigt, denn nur fünf von dreißig Kirchenmusik-Studierenden werden derzeit im Bereich Pop ausgebildet. Das heißt, wir haben schon heute zu wenige gut ausgebildete Popularmusiker. Auch bei den Kirchenmusik-Stellenausschreibungen wird es in Zukunft wichtig sein, dass es mehr dezidierte Pop-Anteile und auch mehr reine Pop-Stellen gibt. Gleichzeitig freuen wir uns sehr darüber, dass es in diesem Bereich einige positive Entwicklungen gibt.

Was hat sich nun konkret im Blick auf die „3 Forderungen“ getan?

Im Folgenden ist die jeweilige Forderung von 2009 durch aktuelle Aspekte und Wahrnehmungen ergänzt.

Forderung 1:

In allen Kirchenbezirken sollen regelmäßig Gottesdienste mit qualifizierter Popularmusik stattfinden.

  • Hochqualifizierte klassische Kirchenmusik gibt es in allen Kirchenbezirken, nicht nur durch die hochkompetent besetzten Bezirkskantorate. Qualitativ vergleichbare Popularmusik ist dagegen an noch viel zu wenig Stellen zu finden. Bis heute ist hochwertige Popularmusik meist nur in Freikirchen, in Zweitgottesdiensten oder besonderen Formaten wie Gospelhaus, Nachteule, Jesustreff, Nachtschicht usw. etabliert.
  • Die hohe Qualität der Klassik-Profis (mit Kantoreien und Ensembles) wird sowohl in Konzerten als auch in Gottesdiensten erlebbar. Die musikalisch oftmals schwache Umsetzung der Popularmusik von vielerorts „ausbaufähigen“ Pop-Ensembles ist damit nicht im Ansatz vergleichbar. Die „Forderung 1“ formuliert den Anspruch, dass in jedem Kirchenbezirk wenigstens an einem Ort fachlich kompetente und qualifizierte Popularmusik geboten ist. Nicht als einzelnes „Event“ oder als besonderes Highlight, sondern als regelmäßiger Standard.
  • Was durchaus schon erreicht wurde: In den meisten Gottesdiensten werden regelmäßig 1-2 „neue Lieder“ gesungen. Die Frage ist zum einen, ob diese „neuen“ Lieder von der jüngeren Generation tatsächlich als „neu“ empfunden werden. Zum anderen braucht es aus unserer Sicht mehr Gottesdienste, die von Liedern der jüngeren Generation ausgehen und aus dieser Perspektive 1-2 „alte Lieder” aufnehmen.
  • Es ist selbstverständlich, dass nicht alle Gemeinden eine hohe Qualität kirchenmusikalischer Angebote realisieren können. Es legt sich darum nahe, dass unterschiedliche Gemeinden unterschiedliche musikalische Profile entwickeln. An ausgewählten Orten sollte jedoch die explizite Unterstützung und der organisatorische Rahmen für qualitativ hochwertige Popularmusik implementiert sein.
  • Um eine theologisch verantwortete Popmusikkultur in der Kirche zu leben, ist es unabdingbar, dass Musik immer eine geistliche Ausrichtung und eine theologische Verortung und Grundierung in sich trägt.

Forderung 2:

In allen Kirchenbezirken soll es hauptamtliche Stellenanteile für ausgebildete Popularmusikerinnen/-musiker und zusätzlich Bezirksbeauftragte für Popularmusik geben.

  • In den aktuellen Stellenausschreibungen sind inzwischen immer wieder auch einige Prozente für Popularmusik. Das ist ein Fortschritt, über den wir uns freuen.
  • Trotzdem werden die meisten hauptamtlichen Stellen nach wie vor mit Musikern besetzt, die in der „Muttersprache“ klassisch musizieren und Pop eher nur „fremdsprachlich“ beherrschen.
  • Bei der Besetzung wichtiger hauptamtlicher Stellen müssen auch fachkundige Popularmusikerinnen und -musiker zumindest beratend im Besetzungsgremium gehört werden. Bei solchen Besetzungsverfahren ist ein gleichwertiges, praktisches Vorweisen der tatsächlichen popularmusikalischen Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber notwendig.
  • Die „Forderung 2“ sagt nicht, dass jede Kirchenmusikerin und jeder Kirchenmusiker in beiden Schwerpunkten (klassisch/Pop) dieselbe Virtuosität vorweisen müsse. Aber Hauptamtliche in der Kirche haben aus unserer Sicht die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass beide Ausprägungen gleichberechtigt vorkommen und gefördert werden können. Dazu kann für den jeweils anderen Schwerpunkt auch Unterstützung organisiert werden.
  • Wenn demnächst die ersten Pop-Kirchenmusik-Absolventen auf den Arbeitsmarkt kommen (beispielsweise die ersten Abgänger der Evangelischen Popakademie in Witten, die 2020 ihren Bachelor abschließen – siehe auch Abschnitt zu „Forderung 3“), müssten auch vermehrt Stellen mit größeren Pop-Anteilen ausgeschrieben werden oder reine Pop-Stellen.
  • Es gibt weiterhin ein großes Ungleichgewicht im Profi-Bereich: In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg stehen rund 11.600 Prozent Stellenanteilen für klassische Kirchenmusik nur rund 400 Prozent Stellenanteile im Popbereich gegenüber. Dass dieses Ungleichgewicht auf jeden Fall auch Auswirkungen auf die musikalische Basis in den Gemeinden hat, liegt auf der Hand.
  • Im Bereich der Nebenberuflichen und Laienmusiker hat sich schon deutlich mehr entwickelt: Seit 1999 wurden in der C-Pop-Ausbildung rund 200 nebenberufliche Musiker ausgebildet – in den Hauptfächern Klavier, Gitarre und Pop-Chorleitung. Im Projekt Musikteamcoaching wurden seit 2012 über 150 Gemeinde-Musikteams gecoacht. Jedes Jahr besuchen etwa 400 Teilnehmende die Seminarangebote von musikplus.
  • Ab dem Jahr 2021 soll ein neuer Zweig der nebenamtlichen C-Pop-Ausbildung mit dem Schwerpunkt Musikteamleitung angeboten werden. Das Amt für Kirchenmusik und musikplus reagieren damit auf die gesteigerte Nachfrage nach Personen, die auf Gemeindeebene Musik- und Lobpreisteams organisieren und fachlich fundiert begleiten können.
  • Im Projekt „Musikteamcoaching” zeigt sich, dass insbesondere Pfarrerinnen und Pfarrer gerade auch im Bereich Popularmusik kompetente Ansprechpartner mit liturgisch-hymnologischem Know-how suchen und brauchen. Immer mehr Gemeinden sind bereit, hierfür geeignete Personen anzustellen.
  • Ein Netzwerk mit Bezirksbeauftragten (Regionale Ansprechpartner für Popularmusik) ist in den letzten Jahren entstanden und wird von musikplus koordiniert. Etwa die Hälfte der Kirchenbezirke sind inzwischen auf diese Weise abgedeckt. Hier wird es in der nächsten Zeit darauf ankommen, dieses Netzwerk weiter auszubauen und gleichzeitig zu pflegen und zu nutzen, Anregungen zu geben und Impulse aus den Bezirken aufzunehmen.

Forderung 3:

An der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen soll zusätzlich ein eigener Hauptfachstudiengang Popularmusik mit spezifischen Aufnahmebedingungen eingerichtet werden. Damit wird einer neuen Generation von Musikerinnen und Musikern der Zugang zur evangelischen Kirchenmusik eröffnet.

  • Wir freuen uns über die positiven Entwicklungen der vergangenen Jahre.
  • Bereits seit 2016 gibt es an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen die Möglichkeit, einen Pop-„Master“-Abschluss (Kirchenmusik Popular) als Aufbaustudiengang auf ein bereits abgeschlossenes Studium aufzusatteln.
  • Seit 2019 gibt es nun den Bachelor-Studiengang „Evangelische Popular-Kirchenmusik“, also ein grundständiges Kirchenmusik-Studium mit diesen „spezifischen Aufnahmebedingungen“. Interessierten aus dem Pop-Bereich ist es somit erstmals möglich, sich mit ihren entsprechenden Vorqualifikationen (z.B. auch mit geringeren Orgelkenntnissen) anzumelden und zum hauptamtlichen kirchenmusikalischen Dienst mit Pop-Profil ausbilden zu lassen.
  • Ein Blick über den Tellerrand sei gestattet: Die Evangelische Popakademie Witten hat 2016 ihren Betrieb aufgenommen. Unter dem gemeinsamen Dach „Hochschule für Kirchenmusik Herford-Witten der Evangelischen Kirche von Westfalen“ stellt die Evangelische Popakademie eine eigene Säule mit eigenem Hochschulstandort dar. Der Studienbetrieb dort profitiert durch die enge Kooperation mit der Stiftung Creative Kirche in Witten und dem angegliederten Institut für Weiterbildung sowie durch die rege Pop-Szene der Region.
  • Ein zweiter Blick über den Tellerrand schließt sich an: Im Bereich der Nordkirche gibt es seit mehreren Jahren einen berufsbegleitenden „B-Pop-Studiengang“ über 7 Semester, der am Nordkolleg Rendsburg durchgeführt wird. Etliche Absolventinnen und Absolventen dieses Kurses haben ihre Stellen schon angetreten. Allerdings kommen auf die Teilnehmenden dieses Kurses relativ hohe Ausbildungskosten zu.
  • Unserer Meinung nach müssten diese Pop-Studiengänge bekannter werden – vor allem unter Studieninteressierten. Denn je mehr Pop-Absolventen es gibt, desto mehr Pop-Stellen wurden in der Vergangenheit ausgeschrieben.
  • Die „Direktorenkonferenz Kirchenmusik in der Evangelischen Kirche in Deutschland“ (zusammengesetzt aus den Rektoren der sechs deutschen Hochschulen für Kirchenmusik in kirchlicher Trägerschaft, den Leitungen der Kirchenmusikabteilungen an staatlichen Hochschulen sowie den Landeskirchenmusikdirektoren der EKD) hat als „Fachgremium für Ausbildung, Prüfung und Anstellung“ inzwischen die Rahmenordnung so überarbeitet, dass diese Pop-Ausbildungen offiziell möglich sind und die Abschlüsse auch landeskirchenübergreifend anerkannt werden.

So erfreulich diese Weiterentwicklung der Rahmenordnung und der konkreten Ausbildungsmöglichkeiten ist, ist doch zugleich ehrlicherweise zu konstatieren, dass dieser Prozess vor allem durch das mutige Vorangehen einiger Kolleginnen und Kollegen und Visionäre in enger Absprache mit ihren Kirchenleitungen vorangetrieben worden ist. Unabhängig von der Rahmenordnung haben sie (siehe Nordkirche, siehe Popakademie Witten) einen Studiengang aufgesetzt und zunächst riskiert, dass sie strukturellen Gegenwind bekommen. Dies führte dazu, dass sich die Direktorenkonferenz zu diesen Entwicklungen verhalten musste und eine Anpassung der Rahmenordnung vornahm, um der faktischen Realität der kirchenmusikalischen Entwicklung Rechnung zu tragen. – Es mag die humorvolle Bemerkung gestattet sein, dass manche Veränderungsprozesse ihre Dynamik durch ein innovatives und unbekümmertes Vorangehen erhalten.

Fazit: 

Wir sind dankbar, dass wir in vielen Bereichen zahlreiche positiven Entwicklungen feststellen, miterleben und mitgestalten konnten und können. Wir freuen uns darüber, dass es an immer weniger Stellen die stark verhärteten Fronten der Vergangenheit zwischen den Vertretern der verschiedenen Musikrichtungen gibt. Wir wollen gemeinsam daran arbeiten, dass wir die vielfältige musikalische Arbeit in unserer Kirche angemessen fördern können, weil es das Evangelium immer wert ist, auf verschiedene Art und Weise in Text, Melodie und Rhythmus gefasst zu werden.

Verantwortlich für die weitere Weiterentwicklung werden sicherlich weder die „Entscheidungsträger“ noch die „Rebellen“ allein sein, sondern vor allem auch die Gemeinden vor Ort, die am besten spüren und hoffentlich adäquat artikulieren werden, was sie brauchen und was ihnen entspricht.

Wie wird sich die Musik in der Kirche in 10 Jahren darstellen? Ein einheitliches Zukunftsbild wird es hier wohl nicht geben, da es bleibend unterschiedliche Bedürfnisse und Perspektiven geben wird. Entscheidend für uns ist, dass Verantwortungsträger für angemessene, ausgewogene und zeitgemäße Ausbildungs- und Anstellungsmöglichkeiten sorgen.

Die Ausdifferenzierung der Stile innerhalb des Pop-Bereichs macht es zudem schwierig, sich zu verständigen. Wenn wir von „Popularmusik“ sprechen, gibt es so viele unterschiedliche Vorstellungen, was das bedeutet. Diese Vielzahl musikalischer Ausprägungen wollen wir jedoch nicht als Komplikation, sondern als Reichtum empfinden.

Entlastend ist es zu wissen, dass Kirchenmusik ein Teil des großen Ganzen ist. Nicht wir sind es, die Kirche bauen. Sondern es ist der Herr der Kirche selbst. Wir freuen uns, wenn wir – gemeinsam mit allen, die sich in der Kirche engagieren – Teil dieser Geschichte Gottes mit seinen Menschen sind.

Hans-Joachim Eißler, Michl Krimmer, Matthias Mergenthaler, Hans-Martin Sauter, Benny Steinhoff musikplus – Popularmusik im EJW